Die Welt der sozialen Medien bietet von Rezepten, Reiseempfehlungen bis hin zu Deko-Ideen und Sport-Clips, einiges an spannenden Beiträgen. Man streicht seinen Bildschirm hoch und plötzlich taucht folgendes Video auf: "10 Anzeichen dafür, dass du an einer Depression leidest." Diese Anzeichen treffen mehr oder weniger zu und so startet der Teufelskreis: Mit jedem weiteren Beitrag, in dem mehr Anzeichen der psychischen Erkrankung genannt werden, assoziiert man sich selbst immer stärker mit der Erkrankung und gibt sich eine Selbstdiagnose - eine Selbstdiagnose durch Social Media. Wieso dieses Phänomen immer präsenter wird und welche Chancen und Risiken dadurch entstehen, erklärt Univ.-Prof. Dr. Thomas Niederkrotenthaler, Public Mental Health-Experte der Medizinischen Universität Wien, in einem Interview mit der "Heute".
Dass soziale Medien und psychische Erkrankungen aufeinandertreffen, ist keine Neuheit. Oft ist es so, dass auf Social Media-Plattformen psychische Krankheiten glorifiziert werden, beispielsweise Essstörungen durch "Pro-Ana" (Anorexia Nervosa) oder "Pro-Mia" (Bulimia Nervosa)-Hashtags. Der Experte der MedUni Wien weist darauf hin, dass oft Defizite im Bereich der Neurodiversität, wie ADHS oder Autismus, in Selbstdiagnosen gemacht werden. Durch diverse Social Media-Plattformen bilden sich nämlich "Communities", in denen sich viele mit ähnliche Diagnose austauschen. Ein Beispiel jener wären die "Aspies", die sich als unterstützende Gruppe innerhalb des Autismus-Spektrum verstehen.
Doch die Selbstdiagnostik bleibt nicht nur bei sich selbst, sondern wird auf Beziehungen im eigenen Umfeld angewendet. Der Public Mental Health-Experte erklärt, dass Begrifflichkeiten, wie Narzissmus, toxische Beziehungen oder "Gaslighting" immer geläufiger unter Nutzern werden. "Laut einer Studie erzählen 40 Prozent der Befragten, dass sie mehrmals in der Woche mit Social Media-Beiträgen in Bezug auf diese Begrifflichkeiten in Kontakt treten. 50 Prozent dieser stellen dadurch ihre eigene Beziehung infrage", so Niederkrotenthaler. Wichtig ist hier zu betonen, dass jene Social Media-Beiträge nur einen Hinweis geben können, wo man genauer hinschauen sollte - sei es im Hinblick auf die eigene Gesundheit oder auf Beziehungen im engen Kreis.
Durch aufschlussreiche Aufklärungsarbeit, die in Beiträgen auf diverse soziale Medien veröffentlicht werden, kann nun ein Bewusstsein für mentale Gesundheit geschaffen werden. Die Enttabuisierung von sensiblen Themen startete erst richtig durch soziale Medien, wie beispielsweise durch "Outings" diverser Stars. So redete Schauspielerin und Sängerin Selena Gomez online über ihre Angstzustände und Supermodel Kendall Jenner über ihre Hypochondrie. Experten auf dem Gebiet, schaffen es, durch klare Beiträge auf den sozialen Plattformen, über mentale Gesundheit, die Thematik "psychische Krankheiten" zu entstigmatisieren.
Das Phänomen um die Selbstdiagnostik zeigt, dass jüngere Menschen ihre Gesundheit in die eigene Hand nehmen und Verantwortung dafür übernehmen möchten. Wo sich aber Chancen ergeben, dort können auch Risiken auflauern. Einige User laden Beiträge hoch, die mit ihrer Laienmeinung eher Panik verbreiten, als andere Nutzer auf psychische Erkrankungen aufmerksam zu machen. "30 Prozent der Befragten, die sich selbst diagnostizierten, haben durch eine Selbstdiagnose unnötige Angst und Stress verspürt. Weniger als 50 Prozent jener klärten mit Ärzten oder Psychologen ihre Selbstdiagnose - bei einem ganz großen Teil bleibt es nämlich nur bei dieser", teilt Experte mit.
"Man kann Social Media als Chance sehen, denn oft kann der Austausch im Netz oder das Informieren jener Krankheiten dazu führen, sich offline das Gespräch mit einem geeigneten Ansprechpartner zu suchen. Da können 'Screening Tools', wie beispielsweise Selbsttests für Depression hilfreich sein", so Niederkrotenthaler. Er betont, dass für das Stellen von Diagnosen spezifische Instrumente notwendig sind und eine gewisse Arzt-Patient-Beziehung essenziell ist, um psychische Diagnosen, wie ADHS oder Autismus, richtig abklären zu können. Der Public Mental-Health-Experte nennt aber auch Gefahren. Denn es können, laut Niederkrotenthaler, menschliche Phänomene pathologisiert werden. Darunter versteht man, dass Verhaltensweisen oder Wahrnehmungen, die keinen Krankheitswert besitzen, als krankhaft eingestuft werden.
„Wichtig ist, sofern man sich in einem Krankheitsbild wiederfindet, sich Rat bei einer qualifizierten Person zu suchen.“Univ.-Prof. Dr. Thomas NiederkrotenthalerPublic Mental Health-Experte der MedUni Wien
Es muss klar sein, dass Beiträge auf sozialen Medien, keine professionelle Therapie ablösen und keine echte Diagnostik ersetzen. Social Media-Beiträge, die von richtigen Experten erstellt werden, machen in erster Linie Nutzer, auf verschiedene Thematiken im Bereich "geistige Gesundheit", aufmerksam. Wichtig zu bedenken ist, dass nur approbierte Ärzte, Psychologen und ausgebildete Therapeuten eine Diagnose feststellen und Betroffene dabei unterstützen können.