Als die Polizei an Maries Türe steht, ahnt die 38-Jährige noch nicht, dass sie sich im Zentrum eines der größten Kindesmissbrauchsfälle Frankreich wiederfinden würde. Die Beamten teilten Marie mit, dass sie eines der Opfer des Chirurgen und mutmaßlichen Serienpädophilen Joël Le Scouarnec sei. "Hat er mich berührt?", fragt Marie noch unschuldig. "Nein, Madame, Sie wurden vergewaltigt."
Am Montag beginnt im bretonischen Ort Vannes der Prozess gegen den 74 Jahre alten Joël Le Scouarnec, der im Verdacht steht, 299 seiner kleinen Patienten – 158 Buben und 141 Mädchen – sexuell misshandelt zu haben. Die Opfer waren im Schnitt elf Jahre alt, die meisten von ihnen während der Taten bewusstlos.
Doch obwohl die heute erwachsenen Opfer kaum Erinnerungen an die Übergriffe haben, führte der frühere Chirurg sorgfältig Buch über seine Taten und hortete Fotos und Videos seiner Patienten und Patientinnen. Le Scouarnec muss sich wegen 111 Vergewaltigungen und 189 sexueller Übergriffe vor Gericht verantworten. Der Tatzeitraum umfasst zweieinhalb Jahrzehnte, zwischen 1989 und 2014.
Während des viermonatigen Prozesses werden sich die Gesundheitsbehörden und Spitalverantwortlichen auch kritischen Fragen stellen müssen, warum der Chirurg, der in einem Dutzend öffentlicher und privater medizinischer Einrichtungen in der Bretagne und im Westen Frankreichs tätig war, nach einer Verurteilung wegen des Zugriffs auf Online-Bilder von Kindesmissbrauch fast ein Jahrzehnt lang weiter praktizieren durfte.
"Es herrschte eine Omertà. Die Leute wussten Bescheid, sagten aber nichts. Hätte es dieses Schweigen nicht gegeben, hätte man ihm 2004 verboten, Kinder zu treffen, und es hätte weit weniger Opfer gegeben", sagte Mauricette Vinet zum "Observer". Ihr Enkel Mathis war einer von Le Scouarnecs Patienten.
Mathis war zehn Jahre alt, als er im Juni 2007 mit Blinddarmentzündung ins Spital eingeliefert wurde. 2019 bekam auch er Besuch von der Polizei, die ihm erzählte, was sie in Le Scouarnecs Notizbüchern gefunden hatten. Zwei Jahre später starb Mathis im Alter von 24 Jahren an einer Überdosis. "Das war die Hölle für ihn. Ihm fiel der Himmel auf den Kopf", sagte Mauricette Vinet. "Wir versuchten, ihn zu unterstützen, aber er weigerte sich, darüber zu sprechen. Es hat ihn umgebracht."
Die Zeitung "Le Monde" veröffentlichte Auszüge, die es Lesern kalt den Rücken hinunterlaufen lassen. Le Scouarnec notierte, wie er seine Stellung als Arzt nutzte, um sich an möglichst vielen Kindern zu vergehen. "Der Vorteil von kleinen Mädchen ist, dass man sie anfassen kann, ohne dass sie Fragen stellen", schreibt er etwa.
An älteren Kindern vergriff er sich demnach, wenn sie unter Narkose waren – auf dem Operationstisch oder im Aufwachraum. Dabei kam es auch zu Penetration mit dem Finger.
"Ich wusste immer, dass irgendwas nicht stimmte", sagt die heute 42 Jahre alte Amélie Lévêque der Nachrichtenagentur AFP. Lévêque war von Le Scouarnec im Alter von neun Jahren am Blinddarm operiert und nach Einschätzung der Ermittler sexuell misshandelt worden. Später entwickelte sie eine Spitalphobie, litt an Essstörungen, war depressiv.
Der Arzt ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft weitgehend geständig. Er wolle sich während des Prozesses zu den Taten äußern, sagte sein Anwalt Thibaut Kurzawa. Die Verhandlungen sollen an mindestens sieben Tagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Der Angeklagte war bereits 2020 zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, weil er in den 90er Jahren vier Mädchen missbraucht hatte, unter ihnen zwei Nichten, eine Patientin und die sechs Jahre alte Tochter seiner Nachbarn. Es war die Vergewaltigungsanzeige des Nachbarkindes, die die Hausdurchsuchung ausgelöst und damit das schockierende Ausmaß des mutmaßlichen Massenmissbrauchs ans Licht brachte.